Lilith
Lilith könnte die Antagonistin im Film sein, denn als Aktivistin kommt sie der vermeintlich objektiven Forschung von Hiwot und ihren Kollegen im Hub in die Quere. Lilith wird im Zentrum der Geschichte stehen, weshalb wir eine ausführliche Backstory für sie entwickelt haben. Welche Lebensabschnitte von Lilith fehlen noch, um sie als Menschen greifbar zu machen? Und was denkst du, auf welcher Seite der Resolution 19-Debatte würdest du stehen? Teile es uns mit und werde Teil von Project Solanum!
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Ich kam am 3.8.2038 auf die Welt. Meine Eltern gaben mir den Namen Anna-Kaya. Ich wuchs in Burgdorf bei Bern auf. 2038, das ist sechs Jahre vor YD und 12 Jahre vor der Resolution 19. Man fühlte sich noch gerade so im Holozän. Diversität, Inklusion und Feminismus waren im Westen vermeintlich erfolgreich durchexerziert worden. Die einen waren überzeugt davon, dass mit dem X im Pass, einigen zusätzlichen Rollstuhlrampen und Fleischalternativen universelle Gerechtigkeit erreicht wurde, die anderen waren erleichtert, dass mit dem eskalierenden Klimawandel ein Thema alles andere in den Hintergrund stellte. Wie falsch die Menschen darin waren, den Gesellschaftswandel und den Klimawandel auseinander zu halten, zeigte sich noch schnell genug.
Meine Eltern waren beides Kunstschaffende. Sie hatten den obersten Stock eines Bauernhauses eigenständig zu einem riesigen Loft umgebaut. Dort arbeiteten sie und zogen mich und meinen kleineren Bruder Hanno gross. Sie erzogen uns vegetarisch, nahmen uns an Kundgebungen und auf Museumsbesuche mit. Anfänglich besuchten wir die Kita, doch dort kam es immer wieder zu Konflikten mit anderen Kindern. Hanno und ich waren beides Streithähne (Hennen?) und gaben uns gegenseitig und anderen Kindern den lieben langen Tag aufs Dach. Unsere Eltern gingen nie mit Händen dazwischen, sondern wollten alles mit Worten lösen. Ich muss es ihnen hoch anrechnen, dass sie es durchgezogen haben, aber ich weiss echt nicht, wie sie das geschafft haben. Ich erinnere mich, als Hanno das Gesicht meiner Mutter blutig kratzte und sie immer noch keine Anstalt machte, sich zu wehren. Die Kita-Betreuer:innen versuchten den Wünschen meiner Eltern entgegenzukommen, uns unseren «Freiraum zur emotionalen Expression» zu lassen, doch sahen sie sich irgendwann gezwungen uns von den anderen Kindern zu separieren, was meine Eltern gar nicht mochten. Sie nahmen uns schlussendlich aus der Kita und meine Mutter reduzierte stattdessen ihr Pensum.
Das Geld war knapp, denn meine Eltern lebten von Fördergeldern und Stipendien. Sie weigerten sich auf Auftrag zu arbeiten, oder sich sonst wie zu verbiegen. Als in den 40er-Jahren die Neokonservativen an Einfluss gewannen, wurde es für meine Eltern dann immer schwieriger, sich mit ihrer Kunsttätigkeit über Wasser zu halten. Gelder wurden gestrichen, die Regierung wurde sparsamer. Und auf einmal ging es dann ganz schnell. Ich war fünf Jahre alt, als YD, die Jahrtausenddürre seinen Höhepunkt erreichte und die Effekte auch in Westeuropa zu spüren waren. Das erste Mal hatten meine Eltern faktisch zu wenig Geld, um Lebensmittel zu kaufen und was wir in unserem Garten anpflanzten, brachte uns nicht über die Runden. Die Grundnahrungsmittel waren schlicht zu teuer geworden. Zwar versprach die Regierung, dass man die strategischen Reserven anzapfen würde, aber ein Ende der Dürreperiode war nicht abseh- und der Weltmarkt unberechenbar. Man erkannte, dass es ein langfristiges Problem sein würde.
Meine Eltern gingen auf die Strasse. Gegen die Wiederentdeckung der Atomkraft, gegen die Kürzungen im Sozialwesen, aber vor allem auch gegen die Saatgutmultis, die nicht bereit waren, ihre Patente zu lockern, um die Getreidenot zu reduzieren. Im Gegenteil: Das Parlament bestätigte die Multis in ihrem «Recht», den Landwirt:innen zu verbieten, das gekaufte Saatgut mehr als ein Jahr anzupflanzen, also einen Teil der Ernte als Saatgut für das Folgejahr zu verwenden. Die Behörden gingen rigoros gegen unerlaubte Kreuzungen vor, alles aus Angst, die allmächtigen Multis zu verärgern, sodass sie ihre Forschungsstätten in der Schweiz abziehen würden.
Diejenigen, die sich mit meinen Eltern regelmässig in Bern zu Kundgebungen trafen, also die Grafiker:innen und Musiker:innen, die Sozialarbeiter:innen und Historiker:innen, die Arbeiter:innen und die Pflegefachmänner und -frauen, stiessen irgendwann nicht mehr auf Sympathie, sondern auf Abneigung. Es gäbe grössere Probleme als die Perfektion der sozialen Gerechtigkeit, hiess es. Auf einmal war selbst die Linke für Inländervorrang und ein Ende des Gentechmoratoriums. Meine Eltern konnten es nicht fassen, aber sie gaben nicht auf. Aus jährlichen Kundgebungen wurden monatliche Demonstrationen. Aus wöchentlichen Aktionen entstand die Dauerbesetzung des Bundesplatzes in Bern. Es gibt ein Bild von mir und meinem Bruder auf den Schultern meiner Eltern. Hinter uns das Zeltdorf der Aktivist:innen, vor uns die befestigten Zäune der Polizei.
52 Tage wurde die Besetzung geduldet. Die Polizei kündigte die geordnete Räumung für den nächsten Tag an, doch statt Folge zu leisten, wollten sich einige Teilnehmer:innen den Einsatzkräften entgegenstellen. Sie schlichen sich aus dem Zeltdorf, füllten die Tänke der Einsatzfahrzeuge mit Zucker und verbarrikadierten die Zugänge. Die Reaktion fiel heftig aus. Statt abzuwarten, schritt die Polizei sofort und mit aller Gewalt ein. Ihnen schloss sich eine Meute an, die sich später als die NBW, die Neue Bürgerwehr etablierte. Im Chaos kam es, wie es kommen musste: diejenigen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten, gerieten als erstes unter die Räder. Im Polizeirapport steht, dass Hanno in der panischen Menschenmenge zertrampelt wurde. Es wird nicht erwähnt, ob von Stiefeln oder Sandalen.
Als ob es nicht schlimm genug wäre, dass meine Eltern ihren Sohn verloren hatten, wurden sie in der Presse durch den Dreck gezogen. Rabeneltern, unverantwortlich. Eine Zeitung nannte sie sogar als Strippenzieher:innen der gewaltsamen Demonstrierenden. Eine Schmach für meine zutiefst pazifistischen Eltern. Sie wären an diesem Schicksal wohl zugrunde gegangen, hätten ihre Freund:innen und Mitaktivist:innen nicht die Initiative ergriffen und sie kurzerhand in ihre neugegründete Kommune aufgenommen. So sind wir drei quasi mitgeschleppt worden, als sich in der Schweiz, als Folge der heftigen Zusammenstösse der Behörden und Demonstrierenden, die ersten Gruppen von Wandernden bildeten. Fortan waren wir Teil dieser Bewegung und sollten nie wieder sesshaft werden.
Die Aktivist:innen und Demonstrierenden wurden damals beinahe gezwungen, eine neue Lebensweise für sich zu begründen. Verstossen von den Eltern und Bekannten, vernachlässigt vom Staat, geächtet von den Neokonservativen. Im Gegenteil zu den Klimamigrant:innen in ärmeren Regionen der Welt, war die Wahl zur Wanderung nicht ausschliesslich aus einer Notsituation, sondern auch aus einer politischen und ideologischen Idee heraus entstanden: wenn uns die alte Welt nicht mehr zuhört, begründen wir eine neue. Die ersten Jahre als Wandernde waren chaotisch. Wir alle, der Staat inklusive, mussten ja zuerst einmal mit dieser neuen Realität klarkommen. Irgendwann waren dann die Strukturen so weit geschaffen, dass wir uns organisch durch die Schweiz bewegen konnten, immer dorthin, wo die Witterung am geeignetsten war und wir Ressourcen fanden.
Die Wanderung verändert alles: Dein Verhältnis zu Besitz, zu Eigentum, deine Beziehungen, ja sogar deine Träume. Vorher träumte ich vom Fliegen oder von mir aus vom Ponyreiten. Als ich eine Wandernde wurde, träumte ich nur noch vom Laufen. Laufen, laufen, laufen. Ich träumte von Blasen an den Füssen, die sich zu kleinen Monstern verwandelten und mich von innen aufassen und davon, dass immer alles knapp war: das Wasser, das Essen, der Schlaf, die Geduld der Sesshaften. Meine Eltern hatten endloses Verständnis für mein Meckern und Weinen. Ihrerseits nahmen sie ihr Schicksal mit einer unglaublichen Härte an. Vielleicht, um sich selbst für den Verlust ihres Sohnes zu bestrafen. Ich habe nie gehört, wie sie sich auch nur einmal für ihr neues Leben beschwert haben. Stattdessen begannen sie mir Sparsamkeit, Effizienz, Vorausblick und Scharfsinn vorzuleben. Meine Eltern verzichteten grundsätzlich auf jegliche Leistungen, die der Staat für die Wandernden bereitstellte. Sei es medizinische Versorgung, Unterkünfte oder institutionelle Bildung. Stattdessen unterrichteten sie mich selbst. Insbesondere die Nahrungsmittelspenden verschmähten meine Eltern. Die Nahrungsmittelkrise war der Auslöser ihrer Tragödie und blieb für immer das Hauptthema.
Zu diesem Zeitpunkt, es war das Jahr 2048, erreichte die Schweiz ihren Bevölkerungshöchststand mit fast 10 Millionen Einwohner:innen. Dies einzig auf Grund der Zuwanderung, denn die Geburtenrate ging bereits seit einem Jahrzehnt stetig zurück. Die high-yield Varianten der Multis waren vermeintlich die letzte Hoffnung, all diese Menschen ernähren zu können und so machte die Regierung den Multis allerlei Zugeständnisse. Sie erhielten Gelder für ihre Forschung, Länder zur Bewirtschaftung und staatliche Sicherheiten, damit sie in aller Ruhe ihre Marktmacht ausbauen konnten. Es dauerte nicht lange, bis auch die letzten Argonom:innen in der Schweiz auf patentierte Varianten umgestiegen waren. Es schien, als gäbe es keine Alternative mehr. Meine Eltern bewiesen aber das Gegenteil. Sie begannen, wie alle Wandernde, nebst dem Abfall und Überschuss der Sesshaften, wieder von Wildernten zu leben und diese behutsam zu kultivieren.
2050 übernahm die Schweiz schlussendlich die UNO Resolution 19. Die Verstaatlichung von Agrarland begann. Davon kriegten wir anfänglich nicht viel mit. Wir waren zu diesem Zeitpunkt schon mehr als sechs Jahre auf der Wanderung und ich kannte nichts mehr anderes. Die Zusammensetzung unserer Gruppe wechselte oft. Manchmal waren wir nur wenige Dutzend, manchmal bis zu 100 Menschen. Wir folgten häufig derselben Route. Im Sommer hielten wir uns am Rande der Bergregionen auf, welche immer mehr Städtern Schutz vor dem heissen Klima bot, und lebten von den zivilisatorischen Überschüssen. Im Herbst zogen wir in die Richtung der Hochebenen, arbeiteten auf den Feldern oder ernteten unsere eigenen Mikroparzellen, die überall verstreut lagen. Im Winter suchten wir Schutz in Ruinen im Mittelland und warteten den Beginn des Frühlings ab.
Wenn ich so zurückdenke, dann klingt das fast schon, als verkläre ich diese Zeit. Doch dem war nicht so. Es war hart, unschön und unromantisch. Ständig waren wir am Kämpfen. Mit den Sesshaften, mit den Behörden, mit der NBW. Vielleicht (noch) nicht physisch am Kämpfen, aber zumindest ideologisch. In den 50er wurden die Stimmen der NBW immer lauter, die den Slogan «Sex ohne Sinn» einführten. Die Geburtenraten gingen stetig zurück. Man war sich nicht einig, ob das körperliche, psychologische oder gesellschaftliche Gründe hatte, die «Not» an Nachwuchs wurde aber zunehmend als besorgniserregend empfunden. Der Staat fing an Verhütungsmittel zu verteuern und an ärztliche oder psychologische Atteste zu binden, um die Geburtenraten zu erhöhen, während die Neokonservativen nicht weniger verlangten, als das Abtreibungsverbot wieder einzuführen. Man hörte zu dieser Zeit auch die ersten Geschichten von Wandernden, die dazu gezwungen wurden, ihre Kinder zur Adoption freizugeben. Die Geburtenrate unter den Wandernden war im Vergleich zu den Siedlungen ein Vielfaches höher und viele waren der Meinung, dass die Wanderung kein kindergerechtes Leben zuliess. Damals wollte ich es nicht wahrhaben, dass sowas geschehen konnte. Heute weiss ich es besser.
Das Leben der Wandernden hatte zahlreiche Nachteile, eines davon war die fehlende medizinische Grundversorgung. Ausserdem waren Verhütungsmittel nahezu unmöglich zu erhalten. Schwangerschaften schnellten unter den Wandernden in die Höhe. Ich war zwölf Jahre alt, als ich ein sexuelles Erwachen spürte. Ich erwartete, dass meine Eltern mir auch hier jegliche Freiheiten liessen, so wie sie es grundsätzlich in allen Themen taten, aber dem war nicht so. Sie wollten keinerlei Risiko eingehen und verboten mir jeglichen Körperkontakt zu Jungs. Endlich spürte ich eine Gegenwehr meiner Eltern. Endlich gab es mal eine Grenze, die ich ausloten konnte. Da sie mich vom Kontakt mit Jungs abhielten, schmiss ich mich zum Trotz einfach an die Mädchen. Ich dachte, das mache mich ganz besonders schlau. Ich verführte also meine Freundinnen und überredete sie zu allerlei körperlichen Experimenten. Womöglich drängte ich sie auch fast ein wenig dazu, wenn ich so darüber nachdenke. Meine Eltern waren zwiegespalten mit meinem Verhalten. Sie wussten nicht, was sie damit anfangen sollten. Die Eltern meiner Freundinnen forderten hingegen vehement, dass meine aufdringliche Art ein Ende finde. Das Problem löste sich ohnehin von alleine. Irgendwann machten die Mädchen nicht mehr mit und kündigten mir ihre Freundschaft. Meine Eltern hatten ihr Ziel erreicht: Schwanger wurde ich nie, denn obschon ich eigentlich zum Trotz gehandelt hatte, entdeckte ich, dass mich die Jungs ohnehin nicht interessierten.
Die Wandernden wurden mit der Zeit immer organisierter und begannen sich untereinander auszutauschen. 2055 fand das erste «Singen» statt, zu welchem sich zahlreiche Gruppen von Wandernden trafen, um sich auszutauschen, Dinge zu vereinbaren und gemeinsame Pläne zu schmieden. Ich war im Vorfeld unglaublich aufgeregt, denn irgendwie fühlte es sich so an, als wäre das Singen der Beweis dafür, dass wir nicht nur eine flüchtige Bewegung waren, sondern eine eigene Kultur hatten. Das Singen wurde als basisdemokratisch und inklusiv verkauft, doch zu meinem Erstaunen, waren die Strukturen schon festgefahren und vordefiniert, noch bevor das erste Treffen überhaupt begann. Die älteren Wandernden bestimmten über die jüngeren, die sogenannten Schweizer:innen bestimmten über die vermeintlichen Ausländer:innen und die Männer bestimmten über die Frauen. Nicht nur ich nahm das so wahr, auch meine Eltern waren schockiert, dass sich so gar nichts an den alten Strukturen verändert hatte. Sie gehörten zu jenen, die zuerst einmal die Grundsätze bestimmten wollten. Ja, sie wollten das Rad neu erfinden. Doch die wortführende Mehrheit hatte keine Geduld dafür und beruhte ihre Entscheidungen auf altbewährte Praktiken. Die allermeisten waren bereit sich diesem Prinzip anzuschliessen und so sahen sich auch meine Eltern gezwungen, mitzumachen. Vorerst.
Die Wortführer bestimmten, dass sich die Wandernden mit den Behörden absprechen sollten, um möglichst gute Bedingungen zu schaffen. Sie begannen Verhandlungen zu führen. Der Staat sollte Ressourcen zur Verfügung stellen und auf jegliche Art von Steuern und dergleichen verzichten, dafür sollten die Wandernden darauf verzichten, sich den Siedlungen zu nähern. Die Regierung bestand darauf, klar abgesteckte Gebiete als Wanderfläche zu definieren und forderte die Gruppierungen auf, sich an fixe Routen zu halten. Ich war empört. Schliesslich war es ein Grundpfeiler unserer Existenz, dass wir keine Grenzen kannten und uns eben nicht den Ideen der Regierung unterwarfen. Ich schloss mich mit einigen anderen jungen Wandernden zusammen und wir schlugen eine andere Richtung ein. Wir wollten ein Zeichen setzen und die Vertragsunterschrift mit einer wirkungsvollen Aktion verhindern. Endlich fühlte es sich so an, als hätten alle dasselbe Mitspracherecht. Wir entschieden einheitlich, dass wir die Wortführer und die staatlichen Vertreter:innen mit Farbbomben bewerfen und damit auf diejenige aufmerksam machen wollten, die in der Entscheidungsfindung aussenvor gelassen wurden.
Spitzel der NBW bekamen aber Wind davon und unsere Aktion flog auf. Zwar war die NBW unser Erzfeind, aber die Wortführer der Wandernden wollten sich nicht von ein paar Teenagern reinreden lassen. Einige von uns landeten im Gefängnis, oder hatten heftige Konsequenzen in ihren Gemeinschaften zu ertragen. Ich kam mit einer Verwarnung davon, aber meine Eltern waren insgeheim sehr stolz auf mich. In der Folge nahmen die Wortführer das Heft in die Hand und begannen vieles zu bestimmen. Sie ernannten Anführer, Stellvertreter und Durchsetzer und plötzlich hatten wir dieselben repressiven Strukturen, auf Grund welcher wir ursprünglich unsere Wanderung angetreten hatten. Nicht alle liessen dies mit sich gefallen. Es gab Abspaltungen, Neugründungen und einzelne gewaltsame Auseinandersetzungen. Meine Eltern entschieden sich, ihren pazifistischen Weg weiterzuverfolgen. Sie lehnten es ab, einem Anführer zu folgen und wurden deshalb verstossen. Sie traten ihre eigene Wanderung an, frei von der Gemeinschaft. Wie es sich herausstellt, zum richtigen Zeitpunkt.
Es dauerte nicht lange, bis die Wortführer von ihrer neugewonnen Macht geblendet wurden. Korruption entstand, Hierarchien wurden immer ausgeprägter. Die Frauen mussten sich wieder vermehrt um die Kinder zu kümmern, während die Männer die Entscheidungen trafen. Ab 2061, die Neokonservativen hatten eine absolute Mehrheit im Parlament erlangt, schlug die NBW mit Genehmigung der Regierung einen Konfrontationskurs ein. Die Geduld mit den, in ihren Augen, chaotischen Wandernden war aufgebraucht. Die Wortführer warteten nicht lange zu, sondern forderten die Wandernden auf, ebenfalls in die Offensive zu gehen. Wenn der Staat sie nicht vor der NBW beschütze, müsse man sich halt selber wehren. Erste Scharmützel mit der NBW waren die Folge. Es kam zu Entführungen. Immer öfters hörte man Schauergeschichten von Wandernden, deren Neugeborenen am helllichten Tag entführt wurden und nie wieder auftauchten. Die Polizei sah nur untätig zu. Ihre Zahlen waren zu gering und solange sich die Menschen ausserhalb der Siedlungen auf den Kopf schlugen, war es ihnen egal.
Ich lernte zu dieser Zeit Anthea kennen. Sie war einige Jahre jünger als ich und mit dem Sohn eines Wortführers liiert. Anthea war vorlaut und kritisch und verscherzte es sich damit schon bald mit dem Vater ihres Verlobten. Statt ihr beizustehen, liess er sie fallen. Anthea zahlte es ihm heim, indem sie behauptete, einen Abort eingeleitet zu haben. Dabei war sie gar nicht schwanger. Die Reaktion fiel trotzdem heftig aus. Anthea wurde schrecklich zugerichtet. Mehrere Wochen lang sorgte ich für sie, bis sie wieder aus eigenen Kräften gehen konnte. Von diesem Punkt an, waren wir unzertrennlich. Ich merkte, dass ich mich in sie verliebte, aber einerseits wusste ich nicht, ob sie auch Gefühle für eine Frau entwickeln konnte und andererseits hatte ich mir geschworen, mich nie wieder einem Menschen aufzudrängen, so wie ich es als Jugendliche getan hatte. Meine Befürchtungen waren aber unbegründet. Für Anthea war es das natürlichste der Welt, dass wir ein Paar wurden. Wer hätte gedacht, dass Liebe einfach sein kann? Wir gaben uns selbst neue Namen. Anthea nannte sich fortan Helma, die Beschützerin, und ich nannte mich Lilith, nach der folklorischen ersten Frau Adams, die ihre untergeordnete Rolle hinterfragte und dafür aus dem Garten Eden verbannt wurde.
Für Helma und mich wurde es bald untragbar, Teil der Wandernden zu sein. Unterdessen gab es verschiedene Fraktionen. Einige von ihnen durchaus friedlich und inklusiv, viele Gruppierungen wurden aber immer gewaltbereiter und hierarchischer. Wir entschieden uns deshalb, unsere eigene Wanderung anzutreten. Während wir uns an den Rändern der Bergsiedlungen aufhielten, erfuhren wir das erste Mal von einer Bewegung, die sich The Eden Front nannte. Ein Augenöffner für uns: eine Bewegung, die sich zum Ziel setzte, das Patriarchat und den Kapitalismus zu überwinden, um zu einem harmonischen Umgang mit der Erde zurückzufinden. Wir saugten diese Wörter auf, wie frische Wildernte. Wir schlichen uns in die Siedlungen und nahmen an geheimen Treffen in Kellern teil. Wir erwarteten irgendein Aufnahmeritual, oder eine Prüfung, doch zu unserem Erstaunen war die Bewegung frei von jeglicher Struktur. Im Prinzip gab es die Bewegung nur im kollektiven Sinne. Keine einzelne Person erfand sie, oder definierte sie. Eden Front bedeutet für alle etwas, aber für niemanden exakt dasselbe. In unzähligen durchzechten Nächten besprachen wir, was uns beschäftigte, wo wir den Wandel erkannten und was es zu überwinden galt. Helma und ich lernten Gleichgesinnte aus aller Welt kennen, die sich über das alte, unerträglich langsame und deshalb von der Öffentlichkeit vergessene, terrestrische Internet zuschalteten. Wir tauschten Erfahrungen und Wissen aus, sprachen über sexuelle, gesellschaftliche, systemische und philosophische Befreiung.
Ganz besonders in Erinnerung sind mir die Erzählungen eines Mitglieds geblieben, die über die Übermittlung von Wissen aus der neuen in die alte Welt zur Zeit Columbus erzählte. Damals kamen die Seefahrer von ihren Reisen in Nord- und Südamerika nach Europa zurück und brachten neue Pflanzen und Wissen über diese Pflanzen nach Hause, welches sie den indigenen Völkern abgenommen hatten. Dabei liessen sie aber geflissentlich jenes Wissen aus, dass nicht ihrem politisch-religiösen Duktus entsprach. Beispielsweise Wissen zu der Pfauenblume, die nicht nur schön aussah, sondern auch von den Frauen zum Abort ungewollter Schwangerschaften genutzt wurden. Selbst herzige Herbarien, scheinbar unschuldige Sammlungen von getrockneten Pflanzen, erkannten wir als Teil des Patriarchats. Helma und ich verschlug es die Sprache. Endlich hatten wir unsere Berufung gefunden. Wir merkten beide, dass The Eden Front das richtige Leben für uns war.
The Eden Front formulierte drei Grundsätze: Wir, die Natur, die Frauen, und die Minderheiten, werden unterdrückt und ausgebeutet. Die Mächte, die uns Ausbeuten, fügen uns und der Umwelt, erheblichen Schaden zu. Jedes Mittel ist recht, diese Unterdrückung zu überwinden, solange sie den zugefügten Schaden nicht vergrössert, sondern verkleinert. In anderen Worten: wir waren bereit, nicht nur pazifistisch, sondern auch tatkräftig vorzugehen. Alle Mitglieder suchten sich dabei ihre eigenen Kämpfe. Für manche bedeutet es, zurück zu ihren Familien zu gehen und dort für einen Wandel zu sorgen, andere entschieden sich, sich in den Rängen der Gesellschaft hochzuarbeiten, um an der Quelle etwas zu bewirken. Wieder andere, darunter Helma und ich, sahen es als ihre Aufgabe, wirkungsvolle Aktionen durchzuführen. Wir wussten, dass wir uns damit aus der Legalität verabschiedeten. Solange wir uns an die drei Grundsätze hielten, konnten wir uns der Solidarität und Unterstützung unserer Mitglieder sicher sein. Jetzt mussten wir nur noch das geeignete Ziel finden.
Eine der ersten Aktionen, die einige Mitglieder, Helma und ich durchführten, war im Jahr 2062. Wir brachen ins botanische Archiv in Bern ein und stahlen alte Herbarien. Diese ergänzten wir fortan mit dem Wissen, welches historisch ausgelassen wurde und verteilten Kopien davon wie Pamphlete. Zur selben Zeit fand das hundertjährige Jubiläum des Eurovision Songcontest statt, bei welchem eine obszöne Menge von Blumen die Musik begleiten sollte. Darunter auch wiederbelebte Pfauenpflanzen. Die Verwendung dieser wunderbaren Pflanze an einem solch geldgeilen, oberflächlichen Anlass, verkörperte perfekt die Perversion der Welt. Wir entschieden uns, unsere Bewegung mitten in der Livedurchführung das erste Mal der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wir schlichen uns in die Übertragungshalle und liessen tausende Zeichnungen der Pfauenpflanze mitsamt dem ursprünglich unterdrückten Wissen über die Zuschauenden regnen. Unsere Mitglieder waren entzückt von dieser Aktion, selbst wenn sie nur kleine Wellen in der Presse schlug. Sie führte immerhin dazu, dass wir das quasi-offizielle Symbol für unsere Bewegung fanden: eine Zeichnung einer fliegenden Pfauenhenne mit einem Gefieder aus Blumen, welches die Schwanzschleppe jedes männlichen Pfaus in den Schatten stellt.
Wir kamen in unserer kleinen Gruppierung danach zum Schluss, dass wir in der Saatgut-Diktatur einen der entscheidenden Kräfte der Unterdrückung sahen und unseren Kampf dort weiterführen wollten. Zahlreiche Mitglieder weltweit hatten es schon vorgezeigt, wie Widerstand gegen Düngerhersteller, Multis und Getreidebörsen aussehen konnte. Wir entschieden uns, mit einem vermeintlich unscheinbareren Teil anzufangen: den Hubs. Diese Forschungszentren waren weltweit vernetzt und verfolgten die Aufrechterhaltung der Nutzpflanzen. In unseren Augen kam diese Arbeit ausschliesslich der übermächtigen Multis zugute und förderte als solches die Unterdrückung in der Welt. Die Reaktionen anderer Mitglieder auf diesen Plan waren durchzogen. Einige sahen in der Wissenschaft nach wie vor etwas Objektives, während viele andere schlicht Skrupel hatten, in einer globalen Nahrungskrise die Forschung an Nutzpflanzen anzuvisieren. Doch niemand konnte aufzeigen, dass wir gegen die Grundsätze von The Eden Front verstossen würden. Und so setzten wir uns an die Arbeit.
Helma und ich entschieden uns 2063, zuerst zurück zu den Wandernden zu gehen. Wir zeigten uns vordergründig reuig, für unsere Absplitterung und konnten so das Vertrauen der Gruppe wiedergewinnen. Meine Eltern hatten kein Verständnis für meinen plötzlichen Sinneswandel und ich war nicht bereit, ihnen von meiner neuen Lebensaufgabe zu erzählen. So musste ich ihre Enttäuschung schlucken. Ich weiss, irgendwann wird sich meine Entscheidung auszahlen. So wurden Helma und ich wieder Teil der Wandernden. Während vieler Monate sammelten wir Informationen zu den Hubs in der Schweiz. Wir erahnten, in welchen Regionen diese stehen würden, aber ihre genaue Position wurde von der Regierung geheim gehalten. Wir kundschafteten während unseren Wanderungen unzählige Treibhäuser und Ruinen aus, doch noch immer machten wir kaum Fortschritte.
Jetzt wird die Situation unter den Wandernden zunehmend ungemütlich. Die pan-europäische Idee der «grossen Wanderung» lässt die Emotionen auf beiden Seiten hochkochen und zum ersten Mal setzt die Regierung bewaffnete Militäreinheiten zum Schutz der Siedlungen ein. Helma und ich befürchten, dass es in naher Zukunft zu heftigen Ausschreitungen zwischen Wandernden, der NBW und dem Polizeistaat kommen wird. Das wird auch viele Menschen treffen, die wir schätzen und die nichts mit den Machtspielen der Wortführer zu tun haben. So stehen wir kurz davor uns abermals von den Wandernden abzusetzen. Dieses Mal aber endgültig. Noch einmal, werden sie uns nicht zurücknehmen. Immerhin hat Helma von einem Mitglied den Hinweis gekriegt, dass eine kleine Ansammlung von Treibhäusern im Schweizer Mittelland in den letzten Monaten mehr als einmal von einem Güterzug besucht wurde. Das kann kein Zufall sein. Entweder das Militär baut dort eine Stellung auf, oder wir sind endlich einem der Hubs auf der Schliche. Auf geht’s!